Zauberholz Weißdorn – eine Maipflanze

Die Stadt, in der ich wohne, ist glücklicherweise von viel Wald umgeben. Wenn ich im Mai oder Juni die Welt des Betons und Neonlichts zu Fuß verlasse, um mich von saftigem Grün erquicken zu lassen, dann fällt mir an manchen Stellen nahe am Waldrand zuerst eines auf; ein schwerer betörender Duft. Der süßliche Geruch erinnert mich an verschwitzte, lustvolle Nächte, ein bisschen an Verruchtheit, an Parfum, an Frauen. Andererseits birgt die Schwere auch die Ahnung von Fäulnis und Verfall in sich.
Nach ein paar Atemzügen öffne ich die Augen und sehe den Inbegriff der Unschuld, zartgrüne Blätter und weiße Blüten, die bei einer leichten Brise Schneeflocken zu werden scheinen. Ein Kranz von diesem Strauch muss für jede Braut eine Zierde sein. So denkt man, bis man danach zu greifen versucht, denn die langen, dicht gewachsenen Dornen, die sich in der grünweißen Pracht verbergen, strafen jede unachtsame Berührung.

Das ist der Weißdorn, der schon bei der ersten Begegnung dem aufmerksamen Beobachter seine Vielseitigkeit enthüllt. Er ist verführerisch, zart, sinnlich schön und er ist tückisch, unnachgiebig und birgt den Tod in sich. Der Weißdorn ist ein Zauberholz, so könnte man denken. Viele Namen trägt er. Die Menschen nannten ihn auch Zaundorn, Heckendorn, Christdorn, Hagäpfli, Wibelken und Mehlfässl. Mehlfässl wurde er wohl deshalb genannt, weil sich aus seinen Früchten ein mehlartiger Brei bereiten ließ – ein Essen der armen Leute. Sein edelster Name jedoch ist sicherlich der Hagedorn. Das Wort Hag war einst ein Synonym für „Fee“, aber auch für einen kleinen Garten, eine Einhegung. Im Althochdeutschen bedeutet hagazussa „Hexe“ oder „weise Frau“ oder – wenn wir es wörtlich übersetzen – „Zaunreiterin“, denn jene Frauen übersteigen keck den Zaun zwischen den Welten. Shakespeare verwendete das Verb hagged später im Sinne von „verhext“. Nicht ganz geheuer erschien er, der Hag, so bedeutet auch haggard nicht mehr als „Geizhals“, „Gauner“ oder „alte Vettel“.

An den Dornen, den roten Früchten und dem üppigen Weiß kann man den kleinen Baum leicht erkennen; blüht er in prächtigem Rot, so wird er Rotdorn genannt. Seine Früchte gleichen den Beeren, gehören aber der Art nach zu den Äpfeln. Sie können bis zu zwei Zentimeter groß werden und nehmen bei einigen seltenen Arten auch die Farben Blau, Schwarz oder Gelb an. Die Blätter des Weißdorns sind gezackt, auf der Oberseite dunkelgrün und auf der unteren Seite bläulich-grün gefärbt. Die Blütezeit des weißen Strauches liegt zwischen Mai und Juni.
Die Magie des Weißdorns ist eine vielfältige und nicht etwa auf einen Bereich unseres Lebens beschränkt. Er gilt gleichzeitig als Unheil bringende Hexenpflanze, als fruchtbringender Liebesbaum und als Symbol von Reinheit und Keuschheit – eine Triade, die scheibar nicht recht zusammenpassen will. Doch wir werden sehen, dass seine Eigenschaften all dies begründet erscheinen lassen und es gerade seine mystische Mannigfaltigkeit ist, die ihn den Menschen so heilig macht.

Im frühen Mittelalter war Europa noch dicht und fast undurchdringbar vom Wald überzogen und Heckengehölze wie Eberesche, Weißdorn, Holunder, Hasel und Sanddorn bildeten die Grenze zwischen den Siedlungen der Menschen und dem großen, dunklen Wald. So boten sie nicht nur Schutz vor wilden Tieren und begrenzten das Weideland. Nein, diese dichten und dornigen Hecken waren auch Wächter an der Schwelle zu den mystischen Wesen des Waldes. Hier begann das Reich der Geister, Kobolde, Trolle und der Waldunholde und auch die unglaublich schönen, schrecklichen und verführerischen Elfen hausten dort. Die oben erwähnten Heckengewächse bildeten also eine Grenze zwischen der Welt der Menschen und den Reichen der Waldgeister, eine Pforte, die man nicht leichtfertig überschreiten sollte.

Die Blütezeit des Weißdorns beginnt Mitte Mai und dauert ungefähr einen Monat lang an. Sie galt als Unglückszeit, denn obwohl uns der Mai heute als „Wonnemonat“ erscheint, war er den Menschen lange Zeit suspekt. Immer wieder neigt er zu plötzlichen Kälteeinbrüchen. So galt es als ratsam, neue Dinge erst nach dem Ende der Blütezeit des Weißdorns zu beginnen, etwa eine Ehe nicht im Mai zu schließen – das englische Sprichwort „Ne’er cast a clout ere May be out.“ spielt wohl darauf an: „Ziehe keine neuen Kleider an, bevor der Mai vorbei ist.“ Die Römer verbrachten den Weißdornmonat zwischen Mai und Juni mit ausgiebigen Reinigungszeremonien, die Tempel wurden ausgekehrt und die Götterbilder gewaschen. In seinen „Fasti“ erwähnte Ovid einen Orakelspruch für die Hochzeit seiner Tochter. Die Priesterin des Jupiter beschwor ihn, dass im Unglücksmonat Mai kein Eheglück beschieden sei, man solle sich nicht die Haare kämmen, Nägel schneiden oder mit dem Partner schlafen, bis der Tempel der Vesta ausgekehrt und der Kehricht den Tiber hinabgeschwommen sei. Auch im deutschen Volksglauben galt er als gefährlich, hier jedoch eher für Schwangere. Diese könnten angeblich nicht gebären, wenn sie von den Früchten des Weißdorns gegessen hatten, galt er doch als Zauberbaum, dessen Spitzen von vorbeifahrenden Hexen abgebissen wurden. Vielleicht erklärte man sich so den starken Geruch der Blüten nach weiblichem Scheidensekret, ein Geruch, der Dunkles und Geheimnisvolles erahnen ließ.
Der Duft der Blüten ist betäubend und wurde von dem englischen Kräuterarzt John Gerhard wie folgt beschrieben: „So roch der Wind, der von London her wehte, als dort die Pest wütete.“ Man glaubte auch, die Wurzel des Weißdorns könne Missgeburten auslösen, wenn man den Bauch der Schwangeren dreimal damit schlage. Die Griechen wiederum besänftigten die weiße Hexengöttin Kardea bei Hochzeiten mit brennenden Weißdornfackeln, denn der Weißdorn war die heilige Pflanze dieser Kinderfresserin, die die Gestalt von Vögeln oder Tieren annehmen konnte. Nie durfte er mit ins Haus gebracht werden, da man ihr sonst Einlass gewährte. Außerhalb der Wohnung jedoch konnte er böswillige Hexen vertreiben. So schützten sich Heiratende vor dem Unglücksmonat Mai zusätzlich durch die weißen Blüten des Strauches.


In Irland glaubt man, dass die Vernichtung eines solchen Baumes mit großem Unglück verbunden ist – Herden und Kinder des Täters sterben und sein Vermögen zerrinnt. Im
County Wicklow war es Sitte, vor Beginn des unglücklichen Weißdornmonats einen Weißdorn zu umschreiten, sich dabei Fetzen aus der Kleidung zu reißen und diese in den
Baum zu hängen. Dies sollte ein Zeichen der Trauer und Beschwichtigung sein und erinnert uns gleich an die Mahnungen der römischen Jupiterpriesterin. Später war es auch Brauch, Weißdorn auf Gräber zu pflanzen, vielleicht mit der Intention, dass sich die Geister nicht verirren konnten und in ihrer Welt verblieben. Nicht zuletzt auch wegen seiner spitzen Dornen wurde dem Busch eine bannende und offensive Wirkung nachgesagt. So wurden bei den Slawen die Leichen von Widergängern, oder jene, die verdächtig waren, solche zu werden, mit Weißdornpfählen durchbohrt.

Doch sah man den Hagedorn auch als heilbringend an, insbesondere bei den Kelten. Er
galt als Schutzgrenze vor bösen Geistern und wurde der weißen Göttin Dana geweiht; Feen lebten darin. Merlin, der große Zauberer, schläft im Feenwald Broceliande unter einem Weißdorn den ewigen Schlaf, in den ihn Viviane versetzte. Man dachte sogar,
dass eine Weißdornhecke das Haus vor Blitzschlägen und Stürmen schützen könne.
Als Dekoration von Babywiegen sollte er Krankheit und Kindstod fernhalten. Zum selben Zweck brachte man auch Zweige dieses kleinen Baumes an den Eingangstüren der Häuser an – der Feenbaum kann also auch böse Feen abwehren. Es hieß auch, dass die Dornen des Hagendorns einer Gebärenden eine leichtere Geburt verschaffen sollten, wenn sie diese in einem kleinen Säckchen an ihrer linken Seite trugen. Hebammen trugen die Dornen stets bei sich, um eine Gebärende damit sanft zu berühren, damit diese keine Schmerzen mehr spürte. Wir merken schon: Der Übergang zum deutschen Glauben von der angeblich Fehlgeburten auslösenden Weißdornwurzel ist fließend. Gleichzeitig wurde der Heckenbaum, der das Gehege umschließt und nichts hineinlässt, jedoch zu einem Zeichen der Jungfräulichkeit und Reinheit.

Ganz im Gegensatz zu seiner asketischen Bedeutung steht sein erotischer Charakter. Die Plätze, an denen Hochzeiten gefeiert wurden, wurden in Irland oft mit Weißdorn geschmückt, damit die Ehe der frisch Vermählten fruchtbar und gesegnet sei. Auch den Römern galt er als Liebessymbol, ebenso den Türken, bei denen es als erotische Geste galt, wenn ein Mann einer Frau den Zweig des Weißdorns überreichte. Der Weißdorn galt den Kelten und Germanen in seinem Blütenschnee auch als Baum der Götter und Geister. Vielerorts wurde er als hoch aufragendes Fruchtbarkeitssymbol und als Maibaum geehrt. In ihm manifestierte sich der segensspendende Naturdämon, den die jungen Leute in der Walpurgisnacht aus dem Walde holten und auf dem Marktplatz aufpflanzten, auf dass sein Geist in der Gemeinschaft wirke und sie mit Fruchtbarkeit segne. Im irischen Monmouth an der Mündung der Wye wurde dieser Maidämon mit einem Weißdornzweig in der Hand dargestellt und im mittelalterlichen England gab es den Brauch, an einem Maimorgen auszureiten, um Weißdornzweige zu sammeln und damit den Maibaum zu umtanzen. Der von den Puritanern gefällte Glastonbury Thorn scheint ursprünglich ein solcher „orgiastischer“ Maibaum gewesen zu sein.

Doch gegen welche Leiden und Gebrechen kann uns diese Pflanze helfen? Fakt ist, dass es unzählige Weißdornpräparate gibt. Diese gelten aber weder als Aphrodisiaka noch als Abortiva. Verantwortlich für die Wirkung des Weißdorns sind in erster Linie die Flavonoide, die wir in den Blüten und auch in den Früchten finden können. Wir können den Aufzeichnungen des griechischen Militärarztes Pedanios Dioscurides, der im Dienste der römischen Kaiser Claudius und Nero stand, entnehmen, dass der Weißdorn im europäischen Raum bereits im ersten Jahrhundert u. Z. zum Einsatz kam. Allerdings setzte man ihn hier gegen Blutungen und Gicht ein. Als Mittel gegen Herz- und Kreislaufbeschwerden wurde er erst im 19. Jahrhundert verwendet. Auch in der traditionellen chinesischen Medizin ist die Wirkungsweise dieser Pflanze bekannt. In der Homöopathie wird ein Auszug aus den reifen Früchten bereitet, der gegen Herzbeschwerden und Pulsunregelmäßigkeiten helfen kann. Auch wird er zur Stärkung des sogenannten Altersherzens gebraucht, da er die Sauerstoffversorgung durch die Herzkranzgefäße fördert.
Da sehr viele Herzleiden auf einer mangelnden Sauerstoffversorgung des Herzmuskels beruhen, können wir davon ausgehen, dass sich die Wirkstoffe dieser Pflanze in einem sehr umfangreichen Gebiet einsetzen lassen. Ein Herzinfarkt zum Beispiel wird ausgelöst, wenn der Herzmuskel durch die Herzkranzgefäße über einige Zeit nicht mehr mit Sauerstoff versorgt wird, weil diese zum Beispiel durch ein Gerinnsel verengt sind, und
schließlich das Herzgewebe abstirbt. Eine Angina pectoris beruht meistens darauf, dass
eines der Herzkranzgefäße zeitlich begrenzt verengt ist. Die Folge davon ist wiederum
mangelnde Sauerstoffzufuhr. Die Angina pectoris ist grob gesagt eine mögliche Vorstufe des Herzinfarktes. Aufgrund seiner gefäßerweiternden Wirkung kann man Weißdorntee auch vorbeugend trinken. Das heißt, dass man Herzrhythmusstörungen, Unruhe und Herzmuskelschwäche mit diesem Tee lindern kann. Neuere Untersuchungen ergaben sogar, dass der Weißdornextrakt das Herz von dem Stresshormon Noradrenalin abschirmt. Das bedeutet, dass die typischen Stresssymptome wie Herzrasen, -stechen und Nervosität gelindert werden können. Auch nach einem Herzinfarkt kann man, ergänzend zu den verschriebenen schulmedizinischen Medikamenten, an Weißdorn denken. Denn hier ist eine Erweiterung der Gefäße und somit eine gute Durchblutung mehr als notwendig. Allerdings darf man dabei nicht vergessen, dass eine sofortige Wirkung nicht zu erwarten ist. Man sollte daher diesen Tee zwei bis drei Mal täglich trinken und das jeden Tag!1 Die Wirkstoffe im Weißdorn können aber auch Nebenwirkungen hervorrufen: Magen-Darm-Beschwerden, Schwächegefühl und Hautausschlag. Diese Nebenwirkungen verschwinden allerdings kurze Zeit nach dem Absetzen der Flavonoide. Allerdings muss ich an dieser Stelle auch anmerken, dass es möglich sein kann, dass der Patient allergisch auf einige Wirkstoffe dieser Pflanze reagiert. Diese Reaktionen können von Mensch zu Mensch völlig verschieden und auch unberechenbar sein.

Zusammenfassend muss ich sagen, dass ich erstaunt bin, wie der Mensch einer Pflanze so verschiedene Bedeutungen zuschreiben kann. Zum einen soll sie bei Geburten helfen und gegen Unheil schützen, zum anderen wurde sie als Waffe gegen vermeintlich Untote eingesetzt. Der erste, äußere Anschein dieser Pflanze entspricht der nachgesagten magischen Wirkung, die allerdings in keinem Zusammenhang zu den nachgewiesenen Inhaltsstoffen steht. Ich bleibe dabei, der Weißdorn ist ein Zauberholz und damit ebenso geheimnisvoll und zwiespältig wie die Feen und Hexen, die mit ihm verbandelt sind.

Quellen:
Bertelsmann Universal Lexikon, Bertelsmann Lexikon Verlag, 1996
Müller-Eberling, Rätsch, Storl: Hexenmedizin, 1999
Pahlow: Das große Buch der Heilpflanzen, 2000
Robert Ranke-Graves: Die weiße Göttin, 1985
Storl: Pflanzen der Kelten, 2004
Walker, Barbara: Das geheime Wissen der Frauen, 1993
www.bund-deutscher-baumschulen.de

1 Diese Zeilen sind bitte nicht so zu verstehen, dass der Weißdorn den Arzt ersetzt. Darüber hinaus sollte klar sein, dass man unterstützende alternative Behandlungen vernünftigerweise mit seinem Arzt abspricht.