Neunfache Begegnung mit Odin

Ein Wintersonnenwendmärchen.

Vor nicht allzu langer Zeit, an einem Tag wie diesem, begab sich ein Suchender in den nahen Wald. Er hatte viel gelesen und einiges auswändig gelernt. In seinem Rucksack befand sich alles, von dem er glaubte, es für ein Ritual im Wald zu benötigen. Die Sonne war längst untergegangen. Das Wetter war ungemütlich, aber glücklicherweise war sein Ritualplätzchen nicht allzu weit entfernt.

Er legte seinen Sachen ab, suchte sich Holz zusammen und entzündete etwas mühselig ein kleines Feuer. Andächtig schaute er in die Flammen und befüllte sein Methorn. Der Suchende atmete tief ein und besann sich, ehe er dazu ansetzte die erlernten Worte zum Errichten des Runenkreises auszusprechen: „Hamar i nordri…“

Da wurde er gestört. Ein alter abgerissener Mann kam des Weges und stolperte mitten über seinen Ritualplatz, offensichtlich ein Betrunkener, vielleicht ein Obdachloser.

„Hätten Sie vielleicht mal einen kleinen Schluck für mich?“

Unser Suchender ärgerte sich und verneinte; kramte vielmehr in der Tasche, um einige Cent-Münzen hervorzuholen. Doch der Alte trat auf ihn zu und versetzte ihm einen heftigen Stoß, so dass er rücklings in den Dreck fiel. Der Met spritze nach allen Seiten.

„Du Halunke! Begegnet man so einem abgerissenen Wanderer, einem Frierenden und Obdachlosen? Kennst du die einfachsten Regeln des Gastrechts nicht? Was bist du für ein Mensch, einen Wandersmann so abzuspeisen zu wollen? Das Gastrecht ist ein heiliges Gesetz und es muss gekannt werden!“

Grímnir, brauste es in den Ohren des Gestürzten. Grímnir.

Der Menschensohn versuchte sich zu besinnen, als schon der nächste Mann heran kam. Sein Alter konnte man nicht abschätzen; er hätte jung oder alt erscheinen können. Er wirkte stattlich, obwohl man nicht sagen konnte, ob er muskulös war, dick oder dünn. Der Herannahende hielt inne und sah auf unseren Suchenden herab. „Was liegst du hier im Dreck? Sieht so ein Mensch aus, der sich etwas vorgenommen hat? Wer etwas erreichen will, muss sich freudig und mutig in den Kampf stürzen, auch wenn dieser aussichtlos erscheint. Du aber suhlst dich im Schmutz. Du scheinst schlecht beraten.“ Dunkel lachend trat er beiseite.

Sigvaðir, tönte es aus dem Boden. Sigvaðir.

Der Verspottete stand fassungslos auf und klopfte sich ab. Kaum dass er stand, blickte er ins Gesicht des nächsten Mannes, welches erfahren, angenehm und weltgewandt auf ihn wirkte.

„Dir hat es wohl die Sprache verschlagen?“, fragte ihn der Mann. In der Tat brachte der Andere kein Wort hervor. „Dein billiger Met aus dem Supermarkt bringt da nicht viel; was du benötigst, das ist Skaldenmet und den bekommst du nicht für Geld. Riesen verwahren ihn und es bedarf vieler Übung ihn zu erbeuten. Wie willst du Menschen für dich gewinnen; deinen Gedanken Macht geben, deinem Leben die Bahn bereiten, wenn du nicht mit Worten zu verzaubern weißt?“ Kopfschüttelnd verließ der Fremde den Ritualkreis.

Fimbulþulr, raunte der vielstimmige Chor des Waldes. Fimbulþulr.

Unser junger Mann war schon recht verzweifelt, als ein Mann im Pelzmantel erschien und ihn eindringlich musterte. „Soll das ein Feuer sein?“, fragt ihn der Passant schließlich. „DAS ist ein Feuer“ meinte er, schnippte mit dem Finger und die Flammen schossen bis in die Baumwipfel empor und erhellten die Nacht. „Du willst ein Feuer sein in dunkler Nacht; willst für Andere die Dunkelheit erleuchten? Wenn du das willst, so musst du die Dunkelheit suchen, musst sie verfolgen, musst mit ihr ringen, während sie dich verfolgt. Weißt du was das bedeutet? Mit Feuerzeugen und Zweigen wird das nichts.“ Er sprach es und trat beiseite.

Skollvaldr, sang es dunkler Nacht. Skollvaldr.

Der Suchende klopfte eilig die Flammen an seinem Rucksack aus und wusste schon gar nicht mehr wie ihm geschieht. Da spürte er, dass die nächste Person hinter ihm stand – ein schlanker Mann mit alterslosem Äußeren, die Hände in den Hosentaschen. „Nun, mein Bester?“, säuselte er. „Da ist es uns ja übel ergangen; das kann man dir an der Nasenspitze ablesen. Du solltest dein Inneres nicht so nach Außen kehren, denn für die Welt bist du ein offenes Buch und nicht jeder meint es gut mit dir. Die Gabe der Verzauberung und der Verstellung ist eine hohe Kunst und sie will gelernt sein, wenn du deine Ziele erreichen willst. Bei dir sehe ich da leider noch viel Luft nach oben.“ Er sprach es und verließ den Kreis. Viel zu spät erst bemerkte der junge Mann, dass der Inhalt seinen Jackentaschen verschwunden war.

Göndlir, kicherten die Waldbewohner. Göndlir.

Der nächste Wanderer, der ihn aufsuchte, war ganz in Schwarz gekleidet. „Wie du dich abmühst; das kann ja keiner ertragen.“, meinte er nach einer Weile. „Lass das Grübeln und die Gedanken fliegen, denn sie sind wie Vögel, die man nicht einsperren darf, da sie sonst unglücklich werden.

Folge deinem Herzen und nicht den Büchern. Den Gott, den du suchst, musst du tief in deinem Inneren erkennen. Du wirst ihn kaum im Methorn finden.“

Hrafnaguð, krächzt es aus den Baumwipfeln. Hrafnaguð.

Ein Wind erhob sich und die Bäume rauschten und ächzten. Ein Mann mit wehendem Haar brach durch den Kreis und seine Stimme war wie Sturmtosen.. „Hast du keinen Respekt vor den Toten, Junge? Was bildest du dir ein? Die Macht jener, die vor dir diese Welt verließen, alle Macht und Kraft ihrer gelebten Leben liegt in der Luft und du veranstaltest hier einen lächerlichen Dreck!“ Ein Sturmwind warf den jungen Mann auf den Boden. „Kennst du nicht die Macht der Toten? Weißt du nicht wie sie dein Leben beherrschen? Weißt du nicht um ihr Wissen und ihre Macht? Weißt du nicht um die Kraft deiner Ahnen, die Kraft deiner Wurzeln? Beschwöre diese Mächte und sie reißen dich in die Tiefe oder – sie reißen dich empor! Weißt du, was das bedeutet?“

„Du weißt nichts.“, sagte er rau und bestimmt.

Valföðr, brüllte der Sturmwind. Valföðr.

Während sich unser Suchender erneut mühsam erhob, fiel sein Blick auf die Silhouette eines Liegenden, die sich vor dem Feuer abzeichnete. Entsetzt stellte er fest, dass es sich um einen halbverwesten Leichnam handelte; ein abgerissener Strick war noch um seinen Hals gewunden. Zu seinem Schrecken öffnete sich der Mund der Leiche und ein raues, hohles Lachen erklang aus ihrem Hals. „Ist das dein Opfer? Soll das ein Opfer sein? Eine Flasche Met, verschüttet auf dem Boden?“

Die Leiche lachte markerschütternd, während dem jungen Mann die Haare zu Berge standen.

„Neun Tage lang hing ich am windigen Baum, geopfert mir selbst, erlangte geheimes Wissen, lernte die Mysterien, dann fiel ich ab und erhob mich erneut. Wie weit bist du bereit zu gehen, um zu lernen und zu verstehen? Was wirst du für deine Bitten opfern?

Eine Flasche Met? Erbitte besser nichts, denn dir wird genommen werden. Dir wird genommen werden.“ Wieder lachte der Leichnam düster.

Hangatýr, zischte es aus dem Feuer. Hangatýr.

Als der Morgen graute, war der Suchende ein Lernender geworden und aus den achten wurde ein neunter.

Alföðr.