Ein literarisches Lichterfest

Leseprobe aus „Hexenhaut – Magie hinter den sieben Bergen“ von Diandra Linnemann.

Im Urban-Fantasy-Roman „Hexenhaut“ besucht Magieberaterin Helena Weide ihre Mutter Aradia auf dem Hexenhof für das traditionelle Imbolc-Fest und die alljährlichen Streitereien. Dieses Jahr müssen beide ihre Differenzen allerdings auf Eis legen, als eine neue Mitbewohnerin für unerwartete Probleme sorgt – mit katastrophalen Auswirkungen auf die Gemeinschaft. Denn als Mara sagte, sie habe ihren Mann verlassen, um die gemeinsamen Kinder zu schützen, hat sie nicht die ganze Wahrheit gesagt.

„(…) Gemeinsam wanderten wir zum Ritualplatz. Ich trug einen Krug mit frisch abgekochter Milch unter dem Arm. Die Stimmung war ausgelassen. Obwohl die Februarsonne inzwischen über die Baumwipfel gestiegen war und von einem blassblauen Himmel schien, war es kalt. Aber daran schien sich keine zu stören. In lockerer Prozession folgten wir Aradia den Weg entlang. Die meisten Frauen trugen weiße oder hellgraue Wollroben, deren Säume über das von Raureif geküsste Gras streiften. Ich nickte der einen oder anderen zu, wenn ich jemanden erkannte, lächelte und behielt meine Gedanken für mich.

Der Göttinnenschrein am Waldrand war festlich geschmückt. In aller Frühe musste jemand hergekommen sein, um unzählige Windlichter in einem großen Kreis aufzustellen. Die Wiese glich einem Flammenmeer. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass einige der Kerzen LED-Lichter waren. Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert. Mich störte das nicht. In der Mitte des Kreises stand ein steinerner Altar, der mit weißen, hellblauen und orangefarbenen Bändern geschmückt war. Die Platte wurde getragen von drei steinernen Säulen. In jede von ihnen war ein Gesicht eingemeißelt. Ich stellte den Krug mit der Milch auf der Altarplatte ab und ging dann in den Osten hinüber, wo ich mich zwischen die anderen Frauen stellte.

Helga und Grete blieben in der Mitte des Kreises stehen. Ihnen fiel diesmal die ehrenvolle Rolle zu, als Hohepriesterinnen die Vereinigung der Energien durchzuführen. Leise miteinander redend stellten sie die die Ritualgegenstände auf – ich konnte den reich verzierten gläsernen Kelch sehen, den meine Mutter so sehr liebte, und Grete hantierte mit einem Ritualdolch mit schlichtem weißem Griff. Währenddessen entfachte Helga in einem Kupferkessel, der auf dem Pentakel stand, geschickt ein kleines Feuer.

Irgendwer fing an zu singen. Andere Stimmen fielen ein, stöhnten und ächzten, heulten die umstehenden kahlen Bäume an. Zunächst war es ein großes Durcheinander, aber langsam bildeten sich Harmonie und Rhythmus heraus, und ich fiel ein. Ein wortloser Klangteppich webte sich um den Kreis. Und schon spürte ich, wie die Energien sich aus dem Boden erhoben. Das hier war der Tempel meiner Mutter – kein Gebäude, sondern ein Platz unter freiem Himmel, mit direkter Verbindung zur Natur und zu dem Ort, den sie zu ihrem Zuhause gemacht hatte. Etliche Jahre an Ritualen hatten ihre Spuren hinterlassen. Sogar völlig magiefremde Menschen hätten die Energie gespürt, wenn sie unvorbereitet die Lichtung betraten. Vielleicht hätten sie ihre Empfindungen nicht mit unseren Ritualen in Verbindung gebracht, aber sie hätten sich wohl gefühlt, angenommen und ein kleines bisschen benebelt.

Der Gesang erreichte seinen Höhepunkt und verlor sich in einem Flüstern, als sei dies eine einstudierte Nummer. Ich spürte ein angenehmes Kribbeln entlang meiner Wirbelsäule. So fühlte es sich an, nach Hause zu kommen. Und als meine Mutter im Norden vortrat, um die Wächter der Erde anzurufen, sprach ich lautlos jedes ihrer Worte nach. »Hüter des Nordens, Wächter der Erde, die ihr unsere Wurzeln tragt und uns nährt, wir laden euch ein. Herbei!«

Ich spürte, wie meine Wurzeln schwer in den Boden sanken. Es kostete mich Willenskraft, mich nicht aus dem Kreis auszuschließen. Ich mochte es nicht, meine Kraft anderen anzuvertrauen. Zwei tiefe Atemzüge reichten, um mich ein wenig zu entspannen, und ich spürte die Kraft unter meinen Füßen, die sich träge bewegte. Es war Winter, und die Erde schlief.

Die Frau zu meiner Rechten trat einen Schritt vor und trug ihren Teil der Anrufung vor. »Hüter des Ostens, Wächter der Luft, deren Schwingen uns schützen und verteidigen, wir laden euch ein. Herbei!«

Ein frischer Windstoß blies mir die Haare ins Gesicht. Er fühlte sich an wie eine freundliche Berührung, aber die Luft war kalt, und ich zitterte.

»Hüter des Südens, Wächter der Flammen in unseren Herzen, eure Leidenschaft treibt uns an und reißt uns fort.« Die Anrufende stolperte über die Worte. »Wir laden euch ein. Herbei!«

Das Feuer auf dem Altar loderte auf.

Aufmerksam verfolgte ich, wie Mara im Westen einen Schritt vortrat. Sie hob den Kopf, die Augen geschlossen. Als ihre weiche Stimme über die Lichtung hallte, war ich überrascht. »Hüter des Westens, Wächter des Wassers. Blut, das durch unsere Adern fließt, uns auf Wellen trägt und in die Tiefe unserer Weisheit reißt. Mächtige Ozeane und reißende Flüsse, Lebensspender und Vernichter.« Ihre Stimme schien durch meine Ohren zu brausen, während sie Worte rief, die nicht zur traditionellen Anrufung gehörten. Der Effekt war überwältigend. Unwillkürlich hielt ich den Atem an und schloss die Augen. Meine Füße wurden kalt. Ich spürte einen Schwall erregender Energie über mich hinwegspülen. »Wir laden euch ein. Herbei!«

Der Kreis schloss sich mit einem fast hörbaren PLOP. Niemand rührte sich. Vorsichtig öffnete ich die Augen und sah den Boden um uns herum glitzern. Wir waren eine erfahrene Gruppe, gut zwanzig Hexen, in einer Kuppel aus Energie. Knöcheltief in klarem Wasser stehend, das vorher noch nicht dagewesen war. Mein Herz setzte einen Schlag aus.

Falls Helga und Grete, in der Mitte des Kreises, von diesem Ereignis verstört waren, ließen sie es sich nicht anmerken. Erfahren nahmen sie die Fäden der gerufenen Energie auf und begannen, sie in ein Ritual zu weben. Ich spürte eine Welle der Erleichterung durch den Kreis gehen. Maras Gesicht wirkte verwirrt, als sei sie selbst nicht sicher, was gerade geschehen war. Ein schneller Blick zu Aradia – sie presste die Lippen aufeinander. Und auch ich konnte mir nicht erklären, was das gewesen war. Der Westen war traditionell meine stärkste Richtung, ich hatte jahrelang für die Gruppe auf dem Hexenhof die Anrufung der Hüter des Wassers durchgeführt. Doch nicht einmal mit einem starken, gut aufeinander eingespielten Coven war es mir gelungen, etwas Derartiges zu tun. Ich spürte ein leichtes Ziehen in der Magengegend. Entschlossen schob ich dieses unangenehme Gefühl beiseite und konzentrierte mich auf das weitere Ritual.

Glücklicherweise dauerte es nicht lang, denn mit unseren nassen Füßen froren wir innerhalb weniger Minuten ganz erbärmlich. Ich hatte Helga und Grete im Verdacht, das geplante Ritual ein wenig abzukürzen. Effizient und nüchtern segneten sie die weißen Stumpenkerzen, von denen jede Teilnehmerin am Ende des Tages eine mit nach Hause nehmen würde. Jede Kerze wurde am Feuer im Kessel entzündet und dann weitergereicht, bis sich die Kette aus Flammen zu einem Kreis schloss. Helga füllte Milch in den Kelch und reichte ihn den teilnehmenden Hexen, angefangen bei meiner Mutter. Die Verabschiedung der Elemente ging schneller vonstatten, als eigentlich angemessen gewesen wäre. Und kaum waren die Energien befreit, machten wir uns bibbernd auf den Weg zurück zum Haus. Das Wasser in unseren Schuhen schmatzte bei jedem Schritt. Die Unterhaltungen waren enthusiastisch, vielleicht eine Spur überschwänglicher als sonst.

»Das war beeindruckend.«

Die Stimme ließ mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Ich sah auf und bemerkte Grete, die direkt neben mir lief. Sie hatte ihre Rolle als zweite Hohepriesterin gut versehen. Eigentlich gab es im Zentrum eines Rituals je einen Vertreter der männlichen und der weiblichen Energie, aber bei uns versahen seit je her zwei Frauen diese Aufgabe, und das hatte dem Erfolg eines Rituals noch nie Abbruch getan. Noch immer nagte etwas in meinem Unterbewusstsein. Ich war sicher, Grete schon einmal gesehen zu haben. Aber wo?

»So etwas habe ich noch nie erlebt.« Ich wusste sofort, wovon sie sprach.

»Es ist gut, dass Mara hergekommen ist. Mit so viel Talent hätte sie leicht den Anschluss an die Realität verlieren können. Aber deine Mutter wird sie gut ausbilden.«

Was sollte ich dazu sagen? »Es hätte auch schiefgehen können.« Wir erreichten die Ställe, und die Gruppe wurde langsamer.

»Es waren genügend erfahrene Hexen da, um die Energie zu lenken«, widersprach Grete mir.

Ich hielt den Mund. Drüben am Haus konnte ich Falk und Thomas auf der Gartenmauer sitzen sehen, verschwitzt und zerzaust, den geplätteten Ball zwischen sich. Offenbar hatten sie sich gründlich ausgetobt.

Als sie keine Antwort bekam, wechselte Grete das Thema. »Kommst du mit, wenn wir die Schafe auf die Weide bringen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Mir ist kalt, ich geh mich lieber umziehen.« Damit ließ ich die Gruppe hinter mir. (…)“

Diandra Linnemann

Auszug aus: „Hexenhaut“, Band 3 der Reihe „Magie hinter den sieben Bergen“ von Diandra Linnemann.

Die komplette Reihe: „Allerseelenkinder“ (Bd.1), „Spiegelsee“ (2), „Hexenhaut“ (3), „Waldgeflüster“ (4), „Feuerschule“ (5), „Knochenblues“ (6), „Lichterspuk“ (7), „Feengestöber“ (8), „Grimmwald“ (9)

Auch erhältlich in drei Sammelbänden mit zusätzlichen Informationen über Hexerei und Magie:Winter“, Sommer“, „Anderswelt“

Mehr Information zur Autorin, diesem Roman und der kompletten „Magie hinter den sieben Bergen“: Fantasy, Horror und Humor? Das sind ja gleich drei Wünsche auf einmal!