Samhain-Zeit: Der Tod und die Quelle

Eine Samhain-Meditation.

Stell dir vor du befindest dich in einer kargen Landschaft. Es ist nicht dunkel und nicht hell. Das Land ist in ewiges Zwielicht getaucht. Du bist von Geröll, Sand und verdorrter Vegetation umgeben. Schon bald fühlst du neben dir eine Gestalt. Du ahnst sie mehr als dass du sie siehst. Es ist ein Schatten. Aber heute ist Samhain und du weißt, dass es der Tod ist. Und du weißt, dass du ihm folgen wirst. Ihr geht stumm zu einem kleinen Geröllhaufen. Unter ihm spürst du Bewegung. Und dann dringt erst zaghaft und schließlich voller Kraft Wasser zwischen den Steinen hervor. Eine Quelle.

Wohin sich das Wasser ergießt, sprießt das Leben. Die Landschaft verwandelt sich in ein Meer aus Blumen und saftigem Grün. Die Stimme neben dir sagt: „Eine Geburt. Nicht alle schaffen es soweit, aber das spielt keine Rolle.“ Ist das deine Geburt? Der Tod kennt deine Gedanken und sagt: „Das spielt auch keine Rolle.“ Das Rinnsal der Quelle wird breiter und wird zu einem rauschenden Gewässer. Auch in ihm tummelt sich jetzt Leben und aus dem Zwielicht ist inzwischen heller Sonnenschein geworden. „Die glücklichen Tage der Kindheit.“, sagt der Tod. „Die Tage voller Phantasie, Lebensfreude und Übermut.“ Ihr geht das Gewässer entlang und du siehst wie sich hin und wieder ein großer Stein darin auftürmt oder sich der Lauf verengt und das Wasser zu versiegen droht. „Das Chaos“, sagt der Tod: „Der Unfall, den du nicht hattest, die Krankheit, die dich nicht erreichte, die Mutter, die dich nicht erwürgte.“

Du versuchst dich an deine Kindheit zu erinnern. Fallen dir Situationen ein, in denen du dem Tod näher warst als dem Leben?

Trotz der Hindernisse fließt das Wasser weiter. Der inzwischen gewachsene Fluss scheint stark und unbezwingbar, aber an manchen Stellen wirkt das Wasser brackig. Es wirkt abgestanden, fast leblos und hier und da steigt sogar ein fauliger Geruch auf. „Die Jugend“, sagt der Tod. Du zweifelst. Ist denn die Jugend nicht die lebendigste aller Lebenszeiten? Fast kannst du das Lächeln des Todes sehen und etwas höhnisch meint er: „Erinnere dich! Wann plagten dich der erste Weltschmerz, die ersten Zweifel an Allem und wann begann die Suche nach dem großen Sinn des Lebens, die immer wieder ins Nichts führte? Wenn dieses Wasser zum Stehen kommt und die Fäulnis sich ausbreitet, ist man schon tot. Aber die meisten überleben ihre Jugend.“

Das Wasser wird wieder klarer. Der Fluss sucht sich ein breites Bett und reißt alles auf seinem Weg mit sich. „Sieh den jungen Erwachsenen“, sagt der Tod. „Er glaubt unverletzlich und frei zu sein und geht ohne viel nachzudenken seinen Weg. Siehst du wie er kleinere Flüsse und Bäche verschlingt und mit sich fortreißt? Er bemerkt es nicht einmal.“ Versuche dich zu erinnern: Wann warst du der Verschlinger und wann der Verschlungene?

Der Fluss wird ruhiger. Manchmal nimmt er Windungen, manchmal umspült sein Wasser einen großen Felsbrocken und manchmal scheint sein Bett so ausgedörrt, dass es zu versiegen droht.

„Das Chaos?“, fragst du den Tod. „Ja, das Chaos und das Leben“, sagt der Tod. „Erinnerst du dich an mein Land im Zwielicht? Dort im Totenreich entsteht das Leben und das Leben bringt immer den Tod.“

Plötzlich eröffnet sich vor dir eine seltsame Landschaft. Während du selbst noch in der hellen Sonne stehst und das Wasser zu deinen Füßen dahinrauscht, dehnt sich vor dir eine endlose Geröllwüste, die in Zwielicht getaucht ist. Der Fluss endet an einer unsichtbaren Grenze und scheint nicht weiterzufließen. Du kramst in deinen Gedanken und erinnerst dich: Es ist Samhain und wahrscheinlich sollst du jetzt eine Entscheidung treffen. Der Tod, der deine Gedanken kennt, lacht laut auf. „Wenn es so einfach wäre… An dieser Stelle befindest du dich in jedem Augenblick deines Lebens und in jedem Augenblick entscheidest du und noch viel mehr das Chaos, ob und wie es weitergeht.“ Du schaust in das Wasser und erblickst das Spiegelbild des Todes. Er erscheint dir nicht als Schatten, sondern als der gehörnte Gott, der Inbegriff der Lebenskraft. Als stolzer Hirsch steht er inmitten von blühender Vegetation. Als mächtiger Stier stampft er mit den Hufen und erwartet das Kommende. Als rote Flamme bringt er Wandlung, Inspiration, Mut und Leidenschaft.

Du beginnst zu begreifen, worum es bei der täglichen Entscheidung geht, die du immer wieder aufs Neue treffen musst. Es liegt nicht in deiner Macht etwas gegen das Chaos zu tun. Du kannst in die Fluten des Lebens springen und den Gott darin umarmen. Du kannst mit dem Wasser schwimmen, dich darin treiben, dich davon fortreißen lassen und vielleicht darin ertrinken. Oder du kannst weiter mit dem Tod neben dem Fluss entlang laufen.

Styx & Charon