Wicca – mit oder ohne Dogmen?

Der erste Schritt in eine neue Richtung ist aufgrund der Ungewissheit, ob man auf dem Boden überhaupt Halt findet, immer der schwierigste. So geht es mir gerade auch mit dem Anfang dieses Beitrags, daher möchte ich hier deutlich machen, dass ich mit dieser Arbeit keine Dogmen aufstellen will. Meine Schlussfolgerungen sind als rein subjektive Hypothesen zu verstehen, die ihr gerne widerlegen könnt, wenn ihr dazu Lust habt. Warum ich diese Sätze gleich vorweg stellen möchte, werdet ihr bald merken.

Die Idee über Dogmen im Wicca zu schreiben entstammt einer Diskussion. Wie diese genau zustande kam, kann ich leider nicht mehr nachvollziehen, möglich könnte aber sein, dass Frederic Lamonds Buch „Naturpantheismus – Religion ohne Dogmen“ einen Teil dazu beigetragen hat. Doch dies sei nur am Rande erwähnt, denn ich möchte hier nicht über ein Buch schreiben, sondern unabhängige Schlussfolgerungen ziehen.

Es ist sicherlich nicht alltäglich, sich mit Dogmen im Wicca auseinander zu setzen. Möglicherweise haben sich einige Wicca nicht einmal darüber Gedanken gemacht, sondern einfach so praktiziert, wie sie es kannten oder für richtig hielten. Meiner Meinung nach stellt das für die spirituelle Praxis kaum einen Verlust dar, lediglich eine Konzentration aufs Wesentliche. Doch für genauso wichtig halte ich es, wenn man sich auch in philosophischer Hinsicht mit der eigenen Spiritualität beschäftigt. Vor diesem Hintergrund kann man sich dann fragen, ob auch Wicca als Mysterientradition Dogmen kennt, auch wenn wir das Wort „Dogma“ hauptsächlich aus der christlichen Theologie kennen.

Bevor wir uns tiefer mit diesem Thema beschäftigen, sollte zu Beginn der Begriff „Dogma“ erklärt werden. Das Wort stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet übersetzt soviel wie „Meinung“, „Lehrsatz“ oder „Beschluss“. Verwandt dürfte es mit dem lateinischen Wort „Doktrin“ sein, welches „Lehre“ bedeutet. Beide Wörter bezeichnen in etwa dasselbe, nämlich eine Aussage, die für wahr und allgemeingültig angesehen werden sollte, auch wenn beide in verschiedenen Zusammenhängen benutzt werden. Gehen wir weiter, so meinen sie letztlich unumstößliche Grundsätze, die über jeden Zweifel erhaben sein sollten und somit zu universellen Gesetzen avanciert sind.

Natürlich gibt es beinahe unendlich viele Beispiele für Dogmen, insbesondere innerhalb der christlichen Kirchen, aber auch in der Politik (Doktrin), Wissenschaft (Axiom oder Paradigma) und in vielen weiteren Bereichen.

Ein typisch christliches Dogma wäre beispielsweise die Erbsünde oder die jungfräuliche Geburt Jesu Christi durch Maria. Diese Festlegung auf eine bestimmte Aussage hat natürlich seine Vorteile, denn wenn man innerhalb eines Systems einen Satz als Gegebenheit festsetzt, spart man sich weitere Auseinandersetzungen und kann das Systemkonstrukt weiter ausbauen. Somit ändert sich die Herangehensweise, denn ohne dieses Dogma würde der Messias von einer „unreinen“ Frau geboren worden sein, die noch immer mit der Erbsünde behaftet wäre, was in den Augen vieler Christen wohl undenkbar wäre. Mit dem Dogma hingegen hat das Hinterfragen und Zweifeln ein Ende und der Glauben kann unter anderem von der Masse leichter aufgenommen werden. In diesem Zusammenhang sehen wir davon ab, dass in der Bibel, dem Herzstück und Glaubensfundament des Christentums, nicht von einer unbefleckten Empfängnis gesprochen wird, sondern diese wahrscheinlich der Schlussfolgerung entsprang, dass die Mutter von Jesus, dem Sohn Gottes, frei von der Erbsünde sein müsste, um die Göttlichkeit Christi zu bestätigen. Diese Auslegung wurde im Konzil von Trient im 16. Jahrhundert als Dogma erklärt und ist somit seit dieser Zeit als festes Gesetz im katholischen Glauben verankert. Erst zwei Jahrhunderte später erläuterte Papst Pius IX. diesen Lehrsatz ausführlich in einer Bulle und legte eine präzisere Lehrmeinung fest.

Nach diesem kleinen Ausflug in die christliche Dogmatik wollen wir uns aber nun dem Wicca widmen. Und gleich zu Anfang stoßen wir auf eine kleine Schwierigkeit: Ist Wicca eigentlich eine Religion? Diese Frage zu beantworten, scheint eine Sache der Auslegung zu sein, da der Begriff „Religion“ bis jetzt noch keine einheitliche Definition erfahren hat. Wenn wir definieren würden, dass eine Religion jede spirituelle Bewegung ist, der ein Glaube zugrunde liegt, könnten wir diese Frage mit „ja“ beantworten. Nur als solches definiert ist dieser Glaube jedoch nicht, vielmehr geht der Glaube einher mit der spirituellen Entwicklung durch Erfahrungen, durch das Erleben von Mysterien und Offenbarungen.

Zum Wohl oder Übel ist selbst Wicca nicht eindeutig definiert, was eine ganzheitliche Betrachtung des Glaubens als eine Bewegung, Tradition oder Religion schwierig macht. Ich selbst möchte mir hier nicht anmaßen, eine Definition zu erstellen, daher werde ich einige zentrale Elemente des Wicca in Bezug auf dogmatische Hinweise beleuchten, ohne damit zu behaupten, dass diese Dinge für jeden Wicca der Welt grundlegend sein müssten.

Wenn wir nach dogmatischen Elementen im Wicca suchen wollen, so ist es für mich nur natürlich, dass ich zuerst bei den Hinterlassenschaften des Gründers Gerald B. Gardner recherchiere. Seine wesentlichen Aufzeichnungen zum Mysterienkult bleiben wohl die Textsammlungen und Ritualbeschreibungen, die wir heute als das „Buch der Schatten“ kennen. Aus diesem Sammelsurium werde ich einige Texte genauer beschreiben und dabei überprüfen, ob wir nicht doch ein kleines Dogma im Wicca finden können.

Der erste Text, der nach Dogmatik geradezu riecht, trägt den Namen „The Old Laws“ und entstand wahrscheinlich – gar nicht so alt – Anfang der 1960er Jahre. in den Laws finden wir so genannte „Ardanes“, vermutlich eine atypische Schreibweise des Wortes „ordain“, welches soviel bedeutet wie „festsetzen“ oder „bestimmen“. Somit handelt es sich bei diesem Text in der Tat um eine Art von Gesetzesentwürfen, die unter anderem die Strukturen und Belange des Covens regeln sollen. Auch wenn dieser Text wahrscheinlich erst nach der Trennung Gerald Gardners von seiner damaligen Hohepriesterin Doreen Valiente ins Buch der Schatten eingefügt wurde, so ist er dennoch ein fester Bestandteil dieses Werkes, nicht nur in geschichtlicher Hinsicht des Wicca.

Gerade im rituellen Rahmen finden wir stets einen gleichwährenden Ablauf der Prozedur, um einen Kreis zu errichten. Wenn die rituellen Abschnitte auch gelegentlich andersartig ausgeführt werden, bleibt doch der Ablauf ziemlich konstant. Daraus entwickelte sich eine Art Grundritualgerüst, welches eine große Anzahl der Wicca in der ganzen Welt verwenden, auch wenn dieses Gerüst vermutlich von anderen Gemeinschaften wie dem Hermetic Order of the Golden Dawn, den Freimaurern oder dem Ordo Templi Orientis stammt und adaptiert wurde. Inzwischen wurden die Reihe dieser Adaptionen nach der Entstehung des Wiccakults noch von anderen Protagonisten fortgeführt, so können wir diesen typischen Ritualaufbau zum Beispiel in einigen Spielarten des Asatru und bei anderen exotischen oder individuellen spirituellen Praktiken beobachten.

Eine Sonderstellung nimmt für mich die Offenbarung ein, die bekannte Charge aus der Feder von Doreen Valiente. Dieser Text ist vielmehr eine Unterweisung, die sowohl eine Ethik wie auch bestimmte Anhaltspunkte auf rituelle Handlungen und verborgene Mysterien vermittelt. Die Charge ist die wohl populärste Offenbarung im Wicca und hat in vielen Ritualabläufen des Buchs der Schatten einen festen Platz.

Eine weitere äußerst bekannte und von vielen Neuheiden angenommene Aussage ist: „Tu’ was du willst, aber schade niemandem“, der essentielle Satz der sogenannten Wiccan Rede. Abgesehen von der etwas problematischen Aussage dieses Statements1, wird es sehr oft zu den klassischen „Wicca-Weisheiten“ gezählt und könnte eine übergeordnete Ethik darstellen.

Dies sind nur einige Beispiele für Texte, aus denen gut und gerne Dogmen entnommen werden könnten. Die Frage bleibt aber bestehen, ob es sich hierbei tatsächlich um Dogmen handelt. Meine Antwort würde dazu lauten: „ja und nein!“

Die Begründung ist relativ einfach zu verstehen, denn unabhängig davon, ob man nun in einem Coven oder allein praktizieren sollte, arbeitet vermutlich jeder ein wenig anders mit diesen Texten. Da schon der Begriff „Wicca“ als solcher nicht universell definiert ist, kann es auch keine einheitlichen Dogmen für Wicca geben. Dennoch wird es einzelne Personen oder Coven geben, die bestimmte Texte als für ihre Spiritualität wichtig und essentiell erachten. Wenn solch ein Text stets befolgt wird, gleichgültig der Hintergründe für die Verwendung, könnte man sicherlich sagen, dass es sich um ein Dogma handeln könnte.

Für einige Coven stellt zum Beispiel ihr eigenes Buch der Schatten eine Art von Dogma dar, zum Beispiel in der Art und Weise, wie es geführt wird. So könnten beispielsweise die Texte von Gerald Gardner separiert von coveneigenen Texten stehen oder das Buch rein handschriftlich geführt werden. Der Hieros Gamos, eine der heiligsten Handlungen im Wicca, könnte eventuell zu jedem Jahresfest vollzogen werden, um ein Beispiel für ein rituelles Dogma anzuführen. In solch einem Zusammenhang könnte man das Wort „Dogma“ auch durch „Tradition“ ersetzen, doch beide beschreiben hier dieselbe Sache.

In diesem Zusammenhang möchte ich klar formulieren, dass Dogmen grundsätzlich nicht negativ, sondern generell neutral zu verstehen sind. Die negative Färbung dieses Begriffes haben wir wahrscheinlich einigen Kirchenkritikern zu verdanken, welche viele kirchliche Dogmen für nicht mehr zeitgemäß hielten und in ihren Schriften und Proklamationen verspottet hatten. Für das aufgeklärte Volk ist aus dem Dogma wahrscheinlich schnell ein Begriff für verstaubtes und unzeitgemäßes Denken geworden.

Die Gültigkeit eines Dogmas ist in dieser Hinsicht auch nicht mit dem einzig wahren Weg zu verwechseln. Keinesfalls sollte man annehmen, dass Allgemeingültigkeit eine unabdingbare Eigenschaft eines Dogmas wäre. Meines Erachtens reichen eine Person und ein Grundsatz, um ein Dogma entstehen zu lassen. Die Akzeptanz eines Dogmas sollte daher gewährleistet sein, wenn man seine Hintergründe ausführlich erforschen und nachvollziehen kann, um sich somit entscheiden zu können, ob man dieses Dogma annehmen oder ablehnen möchte.

Schwierig wird es meiner Erfahrung nach oftmals dann, wenn die Bedeutung mancher Werte und Richtlinien falsch interpretiert wird.

Gerade bei den „Old Laws“ und anderen Bestandteilen des Buchs der Schatten könnte man auf die Idee kommen, dass den Texten ein ausgeprägter Sexismus mit starren Rollenbildern zu Grunde liegt. Dazu sei gesagt, dass es erstens tatsächlich Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, schon allein anatomisch gesehen, und dass Wicca zweitens auf Polaritäten aufbaut, welche durch die Geschlechter repräsentiert werden. Eine Zuteilung der Aufgabengebiete, Verantwortlichkeiten oder Rollen im Ritual nach Geschlecht ist daher eher eine logische Konsequenz, wenn mit dem Kreislauf der Göttin und des Gottes gearbeitet wird, wie es in den klassischen Jahreskreisfesten oftmals der Fall ist. Dies soll aber nur ein Beispiel dafür sein, wie bestimmte Richtlinien aufgrund von vorschnellen Urteilen zu negativen Dogmen abgestempelt werden können.

Allgemein könnten wir sagen, dass ein Dogma letztlich ein spiritueller Lehrsatz sein kann, der von bestimmten Menschen für stimmig erkoren und somit im jeweiligen Glauben verankert wurde. Meiner Meinung nach ist es für einen lebendigen Glauben durchaus wichtig, dass auch Dogmen hinterfragt werden können und teilweise auch sollten, um entweder ein tieferes Verständnis für seinen Glauben zu entwickeln oder sich aber fundiert von bestimmten Dogmen distanzieren zu können.

Ein Dogma ist im Zusammenhang mit Wicca also individuell, entweder für die Einzelperson oder für den Coven gültig, und oftmals gut nachvollziehbar. Keinesfalls sind sie nur negativ, sondern besitzen meist eine bestimmte Lehre oder Erkenntnis, an der festgehalten werden soll.

Natürlich soll es auch Menschen auf den spirituellen Wegen des Wicca geben, die völlig ohne Dogmen auskommen mögen; das sollen sie auch gerne weiterhin. Mich persönlich würde sehr interessieren, ob vielleicht mit der Zeit auch auf diese Weise Dogmen entstehen könnten.

Doch abseits jeglicher Autorität und Regeln bin ich mir ziemlich sicher, dass auch diese Menschen der Stimme der Großen Göttin folgen werden, wenn sie nach ihnen ruft.

Fynn